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lothar aemilian heinzle


Alles nur Windhauch

An der Kippe eines 60 Meter tiefen Abgrunds steht in labiler Lage ein 40 Tonnen schwerer Sturz­block. Von einer Felswand des Stierkopfs kommend kam er an dieser exponierten Stelle im Grubser Tobel hoch ob der Alfenz zum Stillstand. Hier pausiert er seit Menschengedenken auf seinem Weg ins Tal, den er irgendwann nach kräftigem Anstoß von oben fortsetzen wird. 

Lothar Aemilian Heinzle erhob diesen wundersamen Stein zum „Objet trouvé“, dem er im August 2022 den Namen WiND/HauCH gab. Zugleich machte er ihn zum „Schlussstein“ eines auf 30 an­dere Steine geschriebenen alttestamentarischen Verses mit dem Titel: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“. Dessen Autor, der weise Kohelet, sinnierte vor zweieinhalbtausend Jahren über die Flüchtigkeit äußerer Werte und die ständige Wiederkehr des Immer-Gleichen. Und gab seiner Niederschrift den Refrain: „Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch“.

Im Juni 2024 sollte sich diese alte Erkenntnis auch im Grubser Tobel bewahrheiten: gleich mehrere der gewichtigen, vom Künstler beschrifteten Steine oberhalb des Windhauch-Monoliths sind nach einem heftigen Wettersturz spurlos verschwunden.

Weiterhin präsent aber sind die luftig-leichten Grafit-Zeichnungen auf Seidenpapier, die Lothar Heinzle von diesen Buchstaben-Steinen bei Zeiten gefertigt hat: Erstens Zeichnungen, welche die Sujets mittels teilweise schraffierten Umrisszeichnungen „realistisch“ abbilden. Zweitens Frottagen, also durch Abreiben der Oberflächenstruktur der beschrifteten Steine mit Grafitstift auf Papier ge­wonnene Ab-Bilder, welche vom Künstler fast flächendeckend mit flüssig-spontan geschriebenen Endlos-Zeilen aus dem Buch Kohelet überzeichnet wurden. Davon ausgespart hat er pro Blatt nur je ein Kreisfragment: die Sonne, unter der es „nichts Neues“ gibt.

Nicht völlig „neu“ sind in diesem Sinne einige der hier eingesetzten künstlerischen Mittel: Das Objet trouvé, die Frottage und der „automatisch“ geschriebene Text sind (Er-)Findungen der Surrealisten Max Ernst und André Breton. Deren Intention war es, mittels unvermitteltem (ges­tischen) Ausdruck, durch Verschiebung, Verdichtung und a-physikalischem Raumwechsel der Dinge „einen Bereich der geistigen Welt ans Licht zu heben“, der gemeinhin von der „Herrschaft der Logik“ unterdrückt wird.

In seiner Installation im Kunstraum Remise intoniert Lothar Aemilian Heinzle die kognitiv kontrol­lierbare ebenso wie die intuitiv evozierbare Ebene der Wahrnehmung von „Wirklichkeit“. Seine Zeichnungen lässt er zudem begleiten von projizierten Fotografien der realen Natur des Tobels, die mit Tonaufnahmen ihrer Umgebung wie auch mit meditativen Synthesizer- und Rohrflötenklängen der Weltmusik-Formation Popol Vuh untermalt werden. Mit seiner multimedialen Reflexion auf unterschiedliche materielle und geistige Dimensionen ausgewählter Natur- und Kulturphänomene lässt uns Lothar Aemilian Heinzle letztlich doch „etwas Neues unter der Sonne“ entdecken.

Text: Lucas Gehrmann

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7. Oktober

1. allerArt kunstpreis für schüler:innen 2023